Erlangen, 28. April 2024

Sehr geehrter Herr Dr. Janik,

als initiative kritisches gedenken haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an Shlomo Lewin und Frida Poeschke sowie an alle anderen Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, in Erlangen und darüber hinaus öffentlich sichtbar zu machen. Dazu gehört für uns seit jeher eine kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart, sowohl in Bezug auf die Kontinuität der Gewalt als auch hinsichtlich der Formen des Gedenkens.

Anlässlich des vierzigsten Jahrestages der Ermordung von Shlomo Lewin und Frida Poeschke 2020 forderten wir gemeinsam mit anderen Akteur*innen aus der Stadtgesellschaft die Neugestaltung eines Gedenkortes für Shlomo Lewin und Frida Poeschke. Die 2010 eingeweihte Lewin-Poeschke-Anlage und die 2015 ergänzten Bäume mit Gedenktafel liegen zwar in der Nähe des Tatorts, sind aber als Gedenkort ungeeignet. Straßenschild und Gedenktafel entpolitisieren das Attentat und regen nicht zur Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart an. Beide stellen keine Informationen über die Tat, ihren Kontext und ihre mangelhafte Aufarbeitung bereit. Beide benennen nicht, dass Antisemitismus das Tatmotiv und ein Neonazi der Täter war.

Die Forderung nach einem neuen Gedenkort für Shlomo Lewin und Frida Poeschke fand zwar Anklang und führte auch zu einem Stadtratsbeschluss, dieser Beschluss ist allerdings mittlerweile zwei Jahre alt und seitdem ist nichts geschehen. Angesichts einer geplanten Neugestaltung der Lewin-Poeschke-Anlage, in deren Rahmen die Neugestaltung eines Gedenkortes offenbar keine Rolle spielt, scheint das Thema seitens der Stadt ad acta gelegt. Auch auf Grund dieses verschleppenden Umgangs haben wir bei unserer Gedenkkundgebung am 19.12.2023 die Forderung nach der Neugestaltung eines Gedenkortes erneuert und um eine weitere ergänzt: Wir fordern die Umbenennung der Bismarckstraße in Shlomo-Lewin-Straße und die Umbenennung des Lorlebergplatzes in Frida-Poeschke-Platz!

Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens gehört es zu einer kritischen Erinnerungskultur, immer wieder in Frage zu stellen, an welche Personen eine (Stadt-)Gesellschaft öffentlich erinnert und ihnen damit besondere Bedeutung zuweist. Eine solche öffentliche Erinnerung kann einerseits mahnenden Charakter haben, oder aber Menschen ehren, die mit ihren Taten als Orientierung und Vorbild für das heutige gesellschaftliche Leben dienen können. Angesichts des gesellschaftlichen Rechtsrucks, aber auch vor dem Hintergrund jahrzehntelanger zivilgesellschaftlicher Erinnerungskritik, ist kritisch zu prüfen, wem in unseren Städten eine solche Rolle zugewiesen wird. Werner Lorleberg, der überzeugter Nationalsozialist und eifriger Befürworter des Zweiten Weltkriegs war, eignet sich nicht als Orientierung und Vorbild für eine offene, demokratische und antifaschistische Stadtgesellschaft. Sein bloßer Name kann auch keinen mahnenden Charakter entfalten. Dasselbe gilt für Otto von Bismarck, der als Wegbereiter des (deutschen) Kolonialismus gelten muss und nach innen autoritär und antisozial regiert hat.

Zweitens aber stellt sich die Frage auch umgekehrt: Wen wollen wir als Stadtgesellschaft als Orientierung und Vorbilder erinnern, wessen Name trägt den Charakter der Mahnung? Die Namen Shlomo Lewins und Frida Poeschkes mahnen uns durch die Erinnerung an ihren gewaltsamen Tod nicht nur, dass wir auch heute alles tun müssen, um Neonazis „das Handwerk zu legen“ (Shlomo Lewin), sondern sie stehen auch für das Überleben, für Antifaschismus und für die zivilgesellschaftliche Arbeit an einer offeneren und vielfältigen Gesellschaft.

Die Umbenennung der Bismarckstraße in Shlomo-Lewin-Straße und des Lorlebergplatzes in Frida-Poeschke-Platz wäre eine Anerkennung dieser Leistungen, wie auch ein Eingeständnis, dass das städtische Gedenken an Lewin und Poeschke, wie es heute ist, nicht so bleiben kann. Es braucht ein Gedenken, das die Verantwortung für die Gegenwart in sich aufnimmt. Und das nicht am Rand, sondern im Herzen der Erlanger Innenstadt. Dass zum Zeitpunkt unserer Forderung nach Straßenumbenennung kein entsprechender Antrag im Rathaus eingegangen war, wie die Stadt in der Presse zitiert wurde, ist unserer Ansicht nach unerheblich. Es handelt sich bei der Frage nach der Umbenennung dieser Straßen und der Würdigung von Shlomo Lewin und Frida Poeschke nicht um eine Verwaltungsangelegenheit, sondern um eine politische Frage, die politische Antworten verlangt.

Die Forderung nach der Neugestaltung eines Gedenkortes zur Erinnerung an das antisemitische Attentat auf Shlomo Lewin und Frida Poeschke ist damit gleichwohl nicht abgegolten. Dieser Gedenkort muss eine Auseinandersetzung mit der Rolle Erlangens und Bayerns in der Geschichte rechter Gewalt ebenso ermöglichen wie mit ihrer Gegenwart. Die Umbenennung der Bismarckstraße und des Lorlebergplatzes in kritischer Absicht wären ein erster Schritt in Richtung einer erinnerungspolitischen Neuorientierung, die dringend geboten ist.

In der Hoffnung, dass die Stadt Erlangen sich dieser Herausforderung stellt und ihrer Verantwortung gegenüber den Ermordeten nachkommt, verbleiben wir mit freundlichen Grüßen

initiative kritisches gedenken e.V.

Erstunterzeichner*innen

Einzelpersonen

Ibrahim Arslan, Politischer Bildner, Opfer und Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992

Prof. Dr. Heiner Bielefeldt, FAU Erlangen-Nürnberg

Dr. Renate Bitzan, Professorin für Gesellschaftswissenschaften an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm

Rami Boukhachem, Vorsitzender des Ausländer- und Integrationsbeirats, Erlangen

Dr. Johann Braun, Rechtsextremismusforscher

Ulrich Chaussy, Journalist, München

Haram Dar, Aktivist, Erlangen

Prof. Dr. Nicolas Engel, FAU Erlangen-Nürnberg

Prof. Dr. Gabriele Fischer, Hochschule München

Bianca Fuchs, ehemalige Stadträtin, Erlangen

Dr. Olaf Kistenmacher, Historiker, Hamburg

Andrea Kuhn, Leiterin des internationalen Nürnberger Filmfestivals der Menschenrechte

Prof. Dr. Uffa Jensen, Historiker und stellv. Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Michael Jordan, Künstler, Erlangen

Wolfgang Most, Erlangen

Dr. Elisabeth Preuß, ehemalige Bürgermeisterin der Stadt Erlangen

Dinah Radtke, Ehrenbürgerin der Stadt Erlangen

Martina Renner, Mitglied des Bundestages, Die Linke

Laila Riedmiller, Doktorandin/Wissenschaftliche Mitarbeiterin, FAU Erlangen-Nürnberg

Frank Riegler, Erlangen

Erich Schneeberger, Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Bayern

Ingolf Seidl, Bildungsreferent

Prof. Dr. Tanja Thomas, Professorin für Medienwissenschaft, Uni Tübingen

Prof. Dr. rer. pol. Fabian Virchow, Sozialwissenschaftler, Hochschule Düsseldorf

Sebastian Wehrhahn, Referent der Partei Die Linke im Bundestag für Antifaschismus

Alia Wielens, FAU Erlangen-Nürnberg

Wolfgang Winkler, ehemaliger Stadtrat, Erlangen

Gruppen

antifa nt

München BAK Shalom der Linksjugend [‘solid]

Bündnis gegen das Vergessen Amberg

Bündnis Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich, Dortmund

Grüne Jugend, Erlangen

Gruppe Antithese, Erlangen

gruppo diffuso, Erlangen

Initiative 12. August, Merseburg

Initiative Das Schweigen durchbrechen, Nürnberg

Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş, Berlin

Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân, Hamburg

Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark

Initiative Herkesin Meydanı – Platz für Alle, Köln

Initiative München OEZ erinnern

Initiative zweiterOktober90

Junges Forum Deutsch-Israelische Gesellschaft Nürnberg-Erlangen

Junge Linke, Erlangen

Netzwerk feministische Perspektiven & Interventionen gegen die (extreme) Rechte

Orgagruppe Bismarckstraßenfest, Erlangen

Selbstverwaltetes Zentrum Wiesengrund, Erlangen

Vorbereitungskreis Tribunal “NSU-Komplex auflösen” 2022, Nürnberg


Weitere Unterzeichner*innen

Einzelpersonen

Leonard F. Seidl (Schriftsteller, Fürth)

Elisabeth Dehling

Eva Stammler (Lehrkraft, Erlangen)

Lukas Eitel (Stadtrat, Die Linke Erlangen)

Anna Sophie Weyh (Fürth)

Valentina Eimer

Sebastian Giepen (pädagogische Fachkraft, Nürnberg)

Tina Sanders

Helen Vierkötter

Prof.in Dr.in Nina Bremm (Lehrstuhl für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Educational Governance und Educational Change, Erlangen)

Julian Fiordalisi (Pflegefachkraft in Ausbildung, Fürth)

Gruppen

Interventionistische Linke Nürnberg

Kulturzentrum E-Werk (Erlangen)

Bündnis gegen Antisemitismus (Köln)


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